Wie MP3-Player Kindern in Afghanistan neue Perspektiven geben sollen

Wie spezielle MP3-Player Kindern in Afghanistan neue Perspektiven geben sollen

Kinder in Afghanistan

In Afghanistan haben Mädchen kaum noch Zugang zu Bildung. Ein Verein aus Bremen entwickelt deshalb MP3-Player mit Lern-Hörbüchern für Kinder in Krisenregionen. Gründerin Sadaf Zahedi, die sich als Kind selbst heimlich mit Büchern versorgte, hat uns erklärt, wie die Geräte funktionieren und welche Geschichten sie erzählen. 

Ich treffe Sadaf Zahedi und ihr Team in einem unscheinbaren Hinterhof in Bremen. Die Umgebung ist lebendig und angesagt – voll mit Cafés, Tattoostudios und jungen Leuten mit Laptops auf den Fensterbänken. Mittendrin: ein kleines Büro mit großem Vorhaben. Hier arbeitet das Team von Bildung ohne Bücher e.V. an einem Projekt, das langfristig Leben verändern soll. Im Zentrum steht ein MP3-Player, der etwas bietet, das vielerorts fehlt: Zugang zu Bildung. Entwickelt wurde er für Orte, an denen Lernen kaum noch möglich ist. Orte wie Afghanistan. Denn dort ist die Lage besonders schwierig.

Eine Generation ohne Schule

Schon vor dem Abzug westlicher Truppen war die Lage im Land von Instabilität geprägt: humanitäre Krisen, jahrzehntelange Konflikte, mutmaßliche Kriegsverbrechen und systematische Gewalt haben tiefe Spuren hinterlassen. Ganze Generationen wurden traumatisiert, sowohl durch religiöse Fanatiker als auch durch westliche Soldaten. Seit der Machtübernahme der Taliban 2021 hat sich die Situation weiter verschärft, besonders für Frauen und Mädchen.

Mit Beginn des neuen Schuljahres in Afghanistan wurden laut eines aktuellen UNICEF-Statements vom März 2025 rund 400.000 weitere Mädchen von Bildung ausgeschlossen. Insgesamt sind damit 2,2 Millionen Mädchen betroffen. Bildung ist für sie heute kaum noch zugänglich. Der Schulbesuch ist offiziell nur noch bis zur sechsten Klasse erlaubt. Und selbst das gilt vielerorts nur auf dem Papier. Vor allem in ländlichen Regionen fehlt es an Infrastruktur und Lehrpersonal. Viele Kinder lernen weder lesen noch schreiben. Für Lehrerinnen und Lehrer ist es oft gefährlich, überhaupt zu unterrichten. Bildung ist zur Ausnahme geworden.

Bildung zum Hören

Genau hier setzt Sadafs Projekt an. Es ist eng mit ihrer eigenen Geschichte verknüpft. Geboren in Afghanistan, floh Sadaf als Dreijährige mit ihrer Familie über Pakistan nach Deutschland. Als Kind durfte sie sich zu Hause selbst nicht weiterbilden. Dafür las sie heimlich – in Büchern, die sie aus Mülltonnen zog. Heute steht sie als Poetin und Aktivistin auf Bühnen in ganz Europa – und nutzt ihre Stimme, um anderen Kindern das zu ermöglichen, was ihr selbst verwehrt blieb.

Sadaf Zahedi, Gründerin von "Bildung ohne Bücher". Foto: privat

Sadaf Zahedi, Gründerin von „Bildung ohne Bücher“. Foto: privat

Sie habe sich gefragt, wie man Kinder in den ärmsten Regionen der Welt erreichen könne, erzählt sie mir. Kinder, die unter Analphabetismus leiden, aber keineswegs weniger klug seien. Entscheidend sei, womit sie in ihrem Alltag in Berührung kämen. „Wenn man Kindern früh Zugang zu Wissen ermöglicht, kann das ihre Zukunft maßgeblich verändern“, erklärt sie. Ihr eigenes Leben, da ist sie überzeugt, hätte einen ganz anderen Verlauf nehmen können, hätte sie früher lernen dürfen.

Seit 2023 arbeitet sie deshalb mit einem kleinen Team an einer Lösung, die möglichst einfach ist und dennoch einen großen Effekt haben soll: Bildung über das Hören. Mit einem kleinen Gerät, das nicht auffällt, aber viel Wissen mit sich bringt.

1.000 MP3-Player, gerüstet für schwierigste Bedingungen

Gemeinsam mit dem Ingenieur Samuel Thomas Buschhorn hat sie einen MP3-Player entwickelt, der für die unterschiedlichsten Herausforderungen gewappnet ist: Er ist hitze- und kälteresistent, kann mit einer kleinen Solarplatte geladen werden und lässt sich im Zweifel mit einer einfachen Anleitung, die bei der Aushändigung der Geräte mit verteilt wird, reparieren. Insgesamt wurden 1.000 dieser Player für den ersten Einsatz produziert. 

Das Herzstück des Projekts sind jedoch die Hörgeschichten. Sie vermitteln Grundkenntnisse vom Alphabet über das Zählen bis hin zu Grundlagen der Naturwissenschaften. Alles ist kindgerecht erzählt, eingebettet in eine Geschichte mit Tierfiguren, die durch verschiedene Stimmen und Perspektiven zum Leben erweckt werden. 

Die Hörbücher sind zweisprachig – unter anderem auf Englisch –, damit die Kinder nicht nur die dringend benötigte Grundbildung in ihrer Muttersprache erhalten, sondern auch einen ersten Zugang zu anderen Sprachen bekommen. Entwickelt wurden die Inhalte gemeinsam mit pädagogischen Fachkräften.

Wissensvermittlung durch Geschichten

Eine von ihnen ist Marie Leonie Ortgies, Grundschullehrerin und Sprecherin der englischen Version. Sie erklärt mir, wie stark Kinder auf Hörreize reagieren – gerade in der frühen Sprachentwicklung. Es gebe eine Phase, in der Kinder erst einmal nur aufnehmen, bevor sie selbst sprechen. Geschichten böten dafür den idealen Rahmen, weil sie gleichzeitig Emotionen ansprechen und Wissen vermitteln.

„Kinder lieben Geschichten. Deshalb nutze ich als Grundschullehrerin auch selbst ganz bewusst Bilderbücher oder kleine Erzählungen. Ich lege den Kindern Bilder vor und lasse sie selbst erzählen, was sie darauf sehen. Es braucht oft gar keinen Text; allein das Bild oder ein gehörtes Fragment genügt. Da passiert so viel im Kopf der Kinder – das ist faszinierend.“

Sadaf hat die Inhalte jedoch nicht nur gemeinsam mit Fachkräften entwickelt, sondern hat sich auch selbst aktiv in Kindergärten und Schulen eingebracht. Sie wollte wissen, was Kinder wirklich interessiert  und wie sich diese Themen in Geschichten übersetzen lassen. Dabei konnte sie auch viel von ihren eigenen Kindern lernen: welche Fragen sie stellen, was sie zum Staunen bringt und wie sie die Welt verstehen.

Bildung für vergessene Orte

Muska und Tajalla Haqiqat haben die Inhalte auf Dari und Paschtu eingesprochen: zwei der am weitesten verbreiteten Sprachen in Afghanistan. Die beiden Zwillingsschwestern – Muska promoviert derzeit in Ethnologie, Tajalla ist Völkerrechtlerin – haben zum Zeitpunkt des Interviews gerade die letzte Aufnahme für das erste Hörbuch abgeschlossen. “Sobald die Aufnahmen die Kinder erreichen, wird es spannend zu sehen sein, was sie daraus mitnehmen, was sie alles lernen können“, erzählt Tajalla. Muska betont außerdem, wie wichtig gerade in Afghanistan eine geschützte, aber trotzdem wirkungsvolle Bildungsform sei – insbesondere für Mädchen.. 

Im Spätsommer 2025 soll die heiße Phase des Projektes beginnen. Dann wird Sadaf gemeinsam mit Serkan Eren, dem Gründer von STELP e.V, und einem eigenen kleinen Team nach Afghanistan reisen und die ersten Geräte persönlich übergeben. In Zusammenarbeit mit lokalen Organisationen sollen die MP3-Player dort an Kinder verteilt werden – vor allem in Regionen, in denen bisher kaum Bildungsprojekte ansetzen.

Die Verteilung erfolgt niedrigschwellig. Jedes Kind, das erreicht wird, erhält ein Gerät – unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder familiärem Hintergrund. Um den Überblick zu behalten, werden die Kinder – sollte die Zustimmung dafür gegeben werden – bei der Übergabe fotografiert oder gefilmt, während sie ihren Namen nennen. So entsteht eine Datenbank, die später in Deutschland verarbeitet werden kann – ganz ohne aufwändige Papierdokumentation vor Ort. Gleichzeitig wird über einen in der Kinderpsychologie bewährten Intelligenztest der aktuelle Bildungsstand der Kinder ermittelt – um die Erfolge langfristig und wissenschaftlich fundiert messen zu können.

Sonja Issel ist ehrenamtliche Mitarbeiterin bei Squirrel News. Nach dem Ende ihrer Arbeit an dieser Geschichte, hat sie sich entschieden, das Projekt “Bildung ohne Bücher” in Zukunft ebenfalls ehrenamtlich zu unterstützen.

Foto: WikiImages / Pixabay (CC0)

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